von Sandra Barbosa da Silva
Kurzgeschichte
Genre: Mystery
Lesedauer: ca. 6–8 min.

Sie war eine geübte Läuferin. Auf ihren regelmäßigen Streifzügen durch das Waldgebiet in der Nähe des Dorfes bewegte sie sich wie ein Schatten. Der sommerliche Spätnachmittag ließ die Mücken in den Sonnenstrahlen tanzen, die sich ihren Weg durch die dichten Baumkronen suchten. Die Wölfin reckte ihre Nase in die Luft und nahm den Duft von Bäumen und Unterholz wahr. Sie hatte es sich an einem Bach bequem gemacht und beobachtete eine Rehmutter und ihre beiden einjährigen Kitze bei der Nahrungssuche. Sie hatte keinen Hunger, also gab es auch keinen Grund zu töten.
Das leise Rauschen des Baches und das muntere Vogelgezwitscher ließen sie eindösen. Sie war ein Teil des Ganzen – bis eine plötzliche Stille sie schlagartig hochfahren ließ.
Etwas gehörte nicht hierher.
Ein widerlicher Gestank. Die Rehe sahen argwöhnisch in die Richtung, aus der das Gejohle kam, aber sie standen nur regungslos da. Die Wölfin verschmolz hinter einem Brombeerbusch mit den Schatten des Waldes. Vier lärmende junge Männer mit Pfeilen, Bögen und Messern bewaffnet stolperten in ihr Blickfeld. Jeder von ihnen hatte einen großen Trinkbeutel geschultert, und ihrem Gegröle nach beinhalteten diese ganz sicher kein Wasser. Sie tranken, setzten ein paar Pfeile ab oder pinkelten an den nächsten Baum.
Die Wölfin kräuselte angewidert die Nase.
„Hey, Freunde… hicks. Rehe!“, lallte der Rotbart. Während die vier Saufbrüder ihre Pfeile an ihre Bogensehnen nockten, machte sich die Rehmutter mit ihren Kindern aus dem Staub. Pfeile zischten durch die Luft und verfehlten die Mutter und eines ihrer Kinder. Das zweite knickte einfach zusammen. Die Mutter blieb stehen und sah zurück. Die Wölfin konnte ihren Schmerz spüren, der wie eine Welle über sie hinweg zog. Nach kurzem Zögern schubste die Mutter ihr Junges an und sie rannten weiter. Die johlende Truppe stolperte hinterher. Wieder flirrten Pfeile durch die Luft – diesmal streckten sie die Mutter nieder. Unsagbares Leid breitete sich im Moment ihres Todes aus und ergriff auch die Wölfin. Sie stieß sie eine knurrende Drohung aus.
„Was war das?“, grölte der Rotbart.
„Keine Ahnung, ein Streuner vielleicht. Den erwischen wir auch noch“, sagte sein dicker Freund. Mit angezogenem Pfeil blickte er sich suchend um. Als nichts weiter passierte, traten die Männer schwatzend und trinkend den Rückweg an. Ihre Beute ließen sie einfach liegen. Die Wölfin knurrte lauter und lief zähnefletschend auf die vier Männer zu.
„Ein Wolf!“, schrie der Rotbart. Wieder flogen Pfeile, aber keiner traf.
Dafür traf die Wölfin.
Im Sprung noch riss sie den ersten Saufbold von den Füßen, ein gezielter Biss in die Kehle und er verreckte gurgelnd. Wie feige Hasen suchten die anderen drei das Weite. Diese Menschen schmeckten einfach ekelhaft, als wäre nichts Natürliches mehr an ihnen. Sie würgte. Das überlebende Rehkitz stand wie angewurzelt neben der toten Mutter und schlotterte angesichts der großen, fast weißen Wölfin. Diese aber hielt inne und richtete sich langsam zu ihrer wahren Gestalt auf. Alya schüttelte ihre langen braunen Haare, strich sich über die Oberarme und spuckte dreimal kräftig aus.
„Einfach widerlich. Wie können Menschen sich so wenig pflegen?“
Nackt, wie sie war, kniete sie sich hin und streichelte zunächst die tote Mutter. Dann hielt sie dem Kitz ihre Hand hin und sprach besänftigend auf es ein, bis es sich von ihr hochheben ließ. Es blutete aus dem Hinterlauf, aber mit den richtigen Kräutern würde sie es schon wieder aufpäppeln. An der üblichen Stelle am Waldesrand hatte sie ihr Gewand abgelegt. Sie zog sich wieder an und ging zurück zu ihrem Dorf. Sie hatte genug gesehen und musste ihr Dorf warnen.
*******
Schweißgebadet fuhr Alya im Bett hoch, ihr Herz hämmerte. Schon wieder dieser Traum. Ihr Blick fiel auf ihren Radiowecker – fünf Uhr nachmittags. Sie hatte sich mit Kopfschmerzen hingelegt und war eingenickt.
„Diese Träume sind Erinnerungsfetzen“, hatte ihr Großvater immer gesagt.
„Was du im Traum schaffst, schaffst du auch im wirklichen Leben“, pflegte er stets zu sagen. Er war der Meinung, dass sie in einem früheren Leben eine Schamanin gewesen war, die sich um das Wohlergehen ihres Dorfes gekümmert hatte. Letzteres mochte halbwegs zutreffen – immerhin war sie Heilpraktikerin geworden und ging in ihrem Beruf richtig auf. Sie stand auf und reckte ihre Glieder. Die Kopfschmerzen waren verflogen. Sie beschloss, durch ihren Lieblingswald in der Nähe zu joggen. Das erdete. Als sie den Bach erreicht hatte, hüpfte sie von Stein zu Stein.
Die Männer nahm sie zu spät wahr.
„Hey, guckt euch die Schnalle an! Kommt, lasst uns die hochnehmen!“, johlte einer der vier jungen Männer, die mit Bierflaschen in der Hand in Gegenrichtung unterwegs waren. Ehe Alya reagieren konnte, hatten die Männer sie umzingelt und zerrten an ihren Klamotten. Eine Hand grabschte ihr unter das Oberteil, zwei andere zogen ihr die Jogginghose herunter. Sie schrie wie am Spieß und strampelte, schlug wild um sich, kratzte, biss. Nichts half. Eine Flasche traf sie am Kopf.
Wie durch Watte hörte sie ein gruseliges Knurren.
Sie versuchte die Augen zu öffnen und sah nur einen bräunlichen Schatten durch die Luft fliegen, der einen der Kerle angriff. Ein entsetzlicher Schmerzensschrei gellte durch den Wald, gemischt mit dem Kläffen und Knurren einer tollwütigen Bestie. Alya setzte sich mühsam auf. Angst kroch ihre Wirbelsäule hoch, ihr wurde heiß. Ein echter Wolf. Sie wusste, dass in dieser Gegend bereits welche gesichtet worden waren, aber sie hätte nie damit gerechnet, einem zu begegnen.
Gefährlich zähnefletschend stand er zwischen ihr und den Männern.
Das ganze Tier grollte wie ein beginnendes Erdbeben. Mit fliegenden Beinen rannten die Kerle davon. Alya traute sich kaum, sich zu bewegen. Der Wolf hatte aufgehört zu knurren und sah sie seltsam an.
Als würde er verstehen. Als solle sie verstehen.
Dann verschwand er. Zittrig ordnete Alya ihre Sachen und machte sich auf den Heimweg. Sie wusste gar nicht, was sie denken sollte. Als erstes musste sie Anzeige erstatten. Und dann darüber nachdenken, was ihre Träume – Erinnerungen – ihr sagen wollten und was das ausgerechnet mit dem Wolf zu tun hatte, der sie nicht angefallen, sondern sie gerettet hatte. „Du bist selbst eine“, würde ihr Großvater nun sagen. Lange hatte sie seine Geschichten für Spinnerei gehalten. Mittlerweile war sie nicht mehr so sicher.
Die vier Männer wurden anhand ihrer Beschreibung tatsächlich gefasst, aber nach einigen Tagen Gefängnis und einer Geldstrafe wieder auf freien Fuß gesetzt.
„Unfassbar!“
Alya starrte auf die Zeitung, die über den Vorfall berichtete. Der Artikel erwähnte auch, dass man den Wolf, der einen der Täter angegriffen hatte, gefunden und getötet hatte. Wölfe, auch wenn sie durch Menschen bewusst wieder angesiedelt wurden, waren nur dann geduldet, wenn sie keine Gefahr darstellten.
„So eine Ungerechtigkeit!“, schimpfte Alya. „Diese Schweinepriester machen, was sie wollen, nehmen sich, was sie wollen, erniedrigen Frauen und kommen auch noch damit durch!“ Sie schüttelte den Kopf. Ein sonst menschenscheuer Wolf hatte sie gegen einen bedrohlichen Feind verteidigt. Letzterer wurde nicht einmal richtig bestraft, aber ihr Retter getötet, weil er eine Bedrohung für die Täter war.
Ein krankes System.
Sie fuhr mit den Fingern über das Foto des toten Wolfs. Mitgefühl, Liebe und grenzenlose Wut erfasste sie. Wie gerne würde sie sich wirklich in die Wölfin verwandeln können, von der ihr Großvater immer gesprochen hatte. Ein Blick in den Spiegel zeigte aber nur ihr grimmiges Gesicht. Sie überwand sich und ging wieder joggen. Die gleiche Strecke wie immer, im Wald am Bach entlang, diesmal achtsam. Anfangs war ihr etwas mulmig, aber nach einigen Wochen wurde es besser.
Bis sie eines Tages in der Ferne vier junge Männer beobachtete, die ein junges Mädel belästigten. Wieder kochten die Emotionen hoch. Es reichte! Sie musste etwas tun, lief schneller. Im Vorbeifliegen erhaschte sie einen Blick auf ihr verzerrtes Spiegelbild im Bach.
Eine fast weiße Wölfin blickte ihr entgegen.
