von Sandra Barbosa da Silva
Kurzgeschichte
Genre: Dystopie
Lesedauer: 5–6 min.
Corona – die neue Pest?
„Mutter, was glaubst du, wie die Menschen vor eintausend Jahren die Corona-Pandemie erlebt haben? Das muss eine schreckliche Zeit für sie gewesen sein.“ Die fünfzehnjährige Maraki saß über ihren Hausaufgaben und starrte nachdenklich auf ihre Geschichts-App. „Das passt alles nicht zusammen. Ihre Forschung war so fortschrittlich, sie hatten unzählige Technologien und Konzepte entwickelt, die ihnen das Leben bequem und sicher machten. Die medizinische Versorgung war gut. Vor wilden Tieren mussten sie sich auch nicht mehr schützen und sie besaßen technische Fortbewegungsmittel. Es gab keine Leibeigenschaft mehr – sie waren freie Menschen! Wie konnte das nur so falsch laufen? Diese Krankheit hätten sie doch mit all ihrem Wissen in den Griff bekommen müssen.“ Sie schüttelte den Kopf.
„Vielleicht musste alles genau so sein?“
Ihre Mutter legte das Gemüsemesser zur Seite. „Vielleicht ist es ja gar nicht so falsch gelaufen. Wie immer muss man das Ganze von einem höheren Standpunkt aus betrachten“, erwiderte Likara.
„Die Natur tut nichts, das keinen Sinn ergibt. In der Evolution kam es immer wieder vor, dass Artenstämme sich verzweigten, neue Unterarten entwickelten und andere ausstarben, wenn sie nicht mehr angepasst genug waren. Anfang des dritten Jahrtausends war es wieder einmal so weit.
Wo eine Sackgasse erreicht ist, schlägt die Natur dazwischen.“
„Das verstehe ich nicht. Dazu waren die Menschen zu angepasst.“ Maraki schüttelte den Kopf und scrollte durch ihren Hausaufgaben-Text. „Wo kam COVID-19 überhaupt so plötzlich her? – Ah, hier steht etwas. Von Verschwörungstheorien ist die Rede, von mangelnder Hygiene sowie Unachtsamkeit. Dem Stamm der Chinesen wollte man es in die Schuhe schieben.“ Maraki runzelte verständnislos die Stirn. „Ein von Menschen gemachtes Virus? Warum hätten sie sich selbst ausrotten sollen?“ Sie sah ihre Mutter ungläubig an. „Das passt nicht zu deiner Evolutionstheorie. Ist auch egal, woher es kam. Im Text steht, die Menschen verloren ihre Arbeit, weil die Unternehmen keine Waren mehr produzieren und verkaufen konnten. Soziale Treffpunkte, wie Restaurants oder Hotels, mussten aufgeben und waren zahlungsunfähig. Viele Bürger konnten ihre Wohnungen und Lebensmittel nicht mehr bezahlen. Die Wirtschaft sackte in eine schwere Krise.“ Marakis Augen wurden groß.
„Das heißt, wer nicht an der Seuche gestorben war, verhungerte einfach?
Wie kann das zu so einer Zeit noch möglich gewesen sein?“
„In der damaligen Dritten Welt auf jeden Fall. Es gab die reichen Industriestaaten und die wesentlich ärmeren Dritte-Welt-Länder. Sie hatten nicht so viel zu verlieren wie die moderne Welt, aber sie bekamen auch weniger Hilfe“, antwortete Likara traurig.
Maraki schluckte, dann fuhr sie fort: „Es brach offenbar der Notstand aus – die Leute hamsterten, so dass die Lebensmittel knapp wurden. Wer zuerst kam, hatte gewonnen. Hygieneartikel sowie haltbare Nahrungsmittel waren wochenlang ausverkauft. In vielen Gegenden verhinderten Ausgangssperren die für Menschen so wichtigen sozialen Kontakte. Senioren in Pflegeheimen durften keinen Besuch mehr empfangen und waren wochenlang allein. – Komisch, wohnten die Älteren nicht bei ihren Familien?“ Maraki kaute auf ihrer Unterlippe herum. „Schrecklich, wenn Oma und Opa nicht hier wären.“
Likara strich ihrer Tochter zärtlich über die Wange. „Gemeinschaft hat heute wieder einen viel höheren Stellenwert – zum Glück“, antwortete sie.
Maraki trug weiter vor:
„Das gesellschaftliche Leben wurde in die Knie gezwungen.
Weder Feiern noch öffentliche Veranstaltungen waren erlaubt, Verstöße wurden bestraft. – Ein schreckliches Szenario. –Viele Leute fühlten sich ihrer Freiheit beraubt.“ Likara nickte. „Ja, die Kriminalität stieg – Diebstahl und Überfälle im täglichen Leben, Geldmache mit Produkten wie Desinfektionsmitteln zu horrenden Preisen – man machte Geld mit der Angst der Anderen. Dazu kam, dass man die Tausende von Toten nicht schnell genug beerdigen konnte. Selbst die Krematorien waren überfüllt. Der letzte Ausweg waren Massengräber – wie im Krieg. Unvorstellbar – da verkrampft sich mein Magen.“ Sie kniff die Augen zusammen. „Bis dahin hatte sich der Mensch als Krone der Schöpfung verstanden. Wie anmaßend. Sie wussten nicht, dass sie falsch lagen. Und dann wurden sie mit der abrupten, kompletten Änderung ihres bisherigen Lebens konfrontiert. Das kann schon zu komischem Verhalten führen.“ Sie spielte mit einer Locke ihrer Tochter.
Maraki sah ihre Mutter konsterniert an. „Sie waren völlig hilflos in ihrem ganzen Wohlstand … Wie konnte es bloß soweit kommen? – Wir machen das doch heute auch alles ganz anders, und das Ergebnis ist gut.
Wieso konnten sie das damals nicht?“
Likara räusperte sich. „Sie waren sehr unachtsam, viele waren geistig fast blutleer. Sie hielten alles für selbstverständlich. Der Wohlstand hatte sie blind und träge gemacht. Sie glaubten, auch ihre Gesundheit würde ewig währen – oder dass die Medizin sie schon wieder hinbekäme. Sie wollten nichts dafür tun. Die damaligen Menschen waren pure Egoisten, nur wenige kannten noch das Gemeinschaftsprinzip. Gier nach Macht und Geld bestimmte den Alltag, mit der Industrialisierung begann auch die Umweltverschmutzung. Die Menschen hatten keinen Einfluss mehr darauf, ob ihre Atemluft verpestet wurde oder nicht. Für die schnelle Befriedigung vergifteten sie sich selbst – sie nahmen Drogen, Medikamente, Zigaretten, Alkohol und hatten sehr freizügigen Sex. Nimmt man aber einer Spezies den natürlichen Feind weg, dann vermehrt sie sich unkontrolliert.
Die Bevölkerung wuchs exponential, so dass die Erde mit der Masse an Menschen völlig überfordert war.
Um ihre Balance wiederzuerlangen, musste etwas passieren – und Corona nahm, was es wollte. Viele verstanden nicht, dass das bisherige lockere Leben vorbei war. Man hielt Fremde wieder für gefährlich, Rassismus verbreitete sich erneut. Wo zu viele der gleichen Spezies sich ein Territorium teilen müssen, ist jeder unweigerlich der Feind des anderen, obwohl es vielleicht gar keinen gibt – bis man sich einen sucht. Die Leute demonstrierten ohne Hygienemaßnahmen gegen das Virus, gegen Schutzbestimmungen, gegen Reisebeschränkungen. Lebensrettende oder ‑erhaltende Maßnahmen waren ihnen lästig. Es kam, wie es kommen musste – es fing wieder von vorne an. Der Mensch war noch zu sehr in seinen Trieben gefangen – wird ein Tier in die Enge getrieben, kommen die Urinstinkte wieder zum Vorschein.“
„Aber es waren doch nicht alle so?“ Maraki hatte Tränen in den Augen. „Es muss doch auch gute Menschen gegeben haben. Das ist so dumm, so peinlich!“
Likara lächelte und nickte. „Ja, Schatz, sonst wären wir heute nicht hier. Geschafft haben es diejenigen, die sich angepasst haben. Die nicht wie alle anderen nach vorne geprescht sind, sondern nach links und rechts gesehen und die beschwerlichen Seitenwege genommen haben. So wie unsere Vorfahren.“
„Corona hatte also auch … gute Seiten?“, fragte Maraki zaghaft.
Likara nickte. „Die Menschen wurden dadurch zur Innenschau gezwungen, sie wachten auf und handelten. Sie bekamen Gelegenheit, Verhaltensmuster zu überdenken, neue Wege zu finden, ausgediente Gewohnheiten abzulegen. Sie trieben die Digitalisierung voran, vereinfachten damit viele Arbeitsgänge – und es war kontaktfrei. Man half sich wieder gegenseitig, der Gemeinschaftssinn rückte wieder in den Vordergrund. Sogar die Umweltverschmutzung ließ drastisch nach, weil man nicht mehr so viele fossile Brennstoffe benötigte. Das führte zu einer schlagartigen Verbesserung der Luft, und
Mutter Erde sowie alle anderen Lebewesen konnten wieder aufatmen, waren von Ballast und Krankheiten befreit und fanden ihre Balance wieder.“
„Das erinnert sehr an die Pest, die auch mutiert und mehrmals ausgebrochen ist“, grübelte Maraki und wischte auf ihrem Gerät herum. „Ah, da ist es. Die erste Form der Yersinia pestis konnte man damals in fünftausend Jahre alten Skeletten nachweisen, die mutierte, resistentere Form erstmalig im Jahre 542 im oströmischen Reich. Sie veränderte die Infrastruktur sowie die politischen Grenzen komplett. Bis ins Jahr 2018 gab es immer wieder Ausbrüche, die meisten davon im Mittelalter. Das klingt fast so, als wäre sie immer da gewesen …
War man unachtsam, schlug sie erneut zu.“
„Gut aufgepasst. Immer, wenn Menschen sich auf engem Raum zu sehr vermehren, kommen die Seuchen wieder – nur die Angepassten überleben. Wird der Mensch nicht zum Umdenken gezwungen, lässt er sich Zeit und hält an seiner Bequemlichkeit fest.
Eine Entscheidung zieht aber immer eine Konsequenz nach sich – auch die des Nichttuns.“
„Corona muss schlimm gewütet haben“, schlussfolgerte Maraki, „wir sind heute nur noch 900 Millionen … Guck mal, hier steht, dass der erste Schub bis ca. 2030 gedauert hat. Später folgte noch einer um 2120 herum.“ Maraki sah ihre Mutter an. „Wieso gibt es das Virus heute nicht mehr? Was haben die Menschen verändert?“
„Sie waren nicht mehr so viele, und die Überlebenden haben ihr Verhalten geändert, sich angepasst, daraus gelernt. Jeder hat nun ein großes Terrain für sich, es gibt keine Nachbarschaftskriege mehr und die Natur gibt dem Bewohner, was er braucht. Und heute haben wir ja ganz andere Heilmethoden. Mach dir keine Sorgen, mein Schatz.
Das Leben findet immer einen Weg, egal, in welcher Form.“