Endstation Stuhlkreis

von San­dra Bar­bo­sa da Silva

Kurz­ge­schich­te
Gen­re: Kri­mi
Lese­dau­er:
13–15 min.

Als das Taxi in die Auf­fahrt zur Kli­nik ein­bog, mil­der­te der ers­te Ein­druck ein wenig mei­ne gedrück­te Stim­mung. Der Weg war gesäumt von gepfleg­ten Rasen­flä­chen und das baro­cke Gebäu­de schmieg­te sich an einen klei­nen Wald, der zu Spa­zier­gän­gen ein­lud. Die vier­stö­cki­ge Vil­la wur­de gesäumt von Rho­do­den­dron­bü­schen, und obwohl es noch früh am Mor­gen war, roch es bereits nach frisch gemäh­tem Rasen. Der som­mer­li­che Früh­ne­bel ver­lieh der Sze­ne­rie ein fast mär­chen­haf­tes Aussehen. 

Hier soll­te ich also die nächs­ten drei Wochen unter Auf­sicht ver­brin­gen, um wie­der in die Spur zu kommen. 

Ich war erleich­tert – es hät­te mich schlim­mer tref­fen können. 

Die Heim­lei­te­rin war eine sehr ange­neh­me, älte­re Dame, die sich äußer­lich ihrem eben­falls barock ein­ge­rich­te­ten Büro ange­passt zu haben schien. Sie wirk­te, als leb­te sie hier schon jahr­hun­der­te­lang. Nach einer kur­zen Vor­stel­lung der Kli­nik und der Ver­fah­rens­wei­sen durf­te ich mein Zim­mer beziehen. 

Es lag zur Süd­sei­te hin­aus, mit einem wun­der­vol­len Aus­blick auf die Park­land­schaft hin­ter dem anti­ken Schlöss­chen. Zwei Pfle­ger gin­gen dort mit einem dun­kel­blon­den Pati­en­ten spa­zie­ren, der etwas älter wirk­te als ich. War­um gleich zwei? Ich grü­bel­te. Der Mann sah doch fit aus. Mit die­sem Gedan­ken beschäf­tigt, ließ ich mich auf eines der bei­den Bet­ten plump­sen. Es hieß, ich bekä­me kei­ne Mit­be­woh­ne­rin aufs Zim­mer, also rich­te­te ich mich ein wie in einem Hotel­zim­mer. Mei­ne Lau­ne stieg etwas. 

Plötz­lich hör­te ich Radau aus dem Gar­ten.

Durch das gro­ße Erker­fens­ter ver­folg­te ich einen Dis­put zwi­schen den drei Spa­zier­gän­gern. Der dun­kel­blon­de Mit­pa­ti­ent reg­te sich laut­stark über etwas auf, brüll­te einen der Pfle­ger an und ging schließ­lich mit den Fäus­ten auf ihn los. Dar­um waren sie also zu zweit. Die Pfle­ger steck­ten ihn mit drei oder vier geüb­ten Hand­grif­fen in eine mit­ge­brach­te Zwangs­ja­cke und zogen den pöbeln­den, wider­stre­ben­den Mann mit sich ins Gebäude. 

Ein ver­stö­ren­des Erlebnis. 

Ich frag­te mich, was pas­sie­ren muss­te, damit sie einen so behan­del­ten. Ein Klop­fen an der Tür riss mich aus mei­nen Gedanken.

„Frau Brink­ner … Mela­nie. Ich hei­ße Syl­via und bin für die nächs­te Zeit Ihre The­ra­peu­tin und Ansprech­part­ne­rin. Wir duzen uns hier alle, wenn es recht ist. Das macht es etwas per­sön­li­cher. Immer­hin woh­nen wir hier ja alle zusam­men. Ist das in Ord­nung?“
„Jetzt schon? Ich bin noch gar nicht fer­tig ein­ge­rich­tet“, ent­geg­ne­te ich miss­mu­tig. Ich mag kei­ne Über­fäl­le, für mich muss alles orga­ni­siert der Rei­he nach lau­fen. Syl­via lief wort­los davon und ließ die Tür weit auf. Genervt eil­te ich hinterher.

Das The­ra­pie­zim­mer war gemüt­lich ein­ge­rich­tet und wirk­te wie eine Well­ness-Oase. Es roch dezent nach Amber und Zitronengras.

„Schö­ne Hals­ket­te. Wen stellt sie dar?“, eröff­ne­te Syl­via das Gespräch.
Ich fass­te an die dün­ne Ket­te mit dem klei­nen Anhän­ger.
„Das ist der hei­li­ge Rafa­el. Ein Geschenk mei­ner Eltern.“
Syl­via nick­te zustim­mend. „Der Schutz­pa­tron. Den wirst du hier nicht brau­chen – wir beschüt­zen dich.“ 

Sie lächel­te wohl­wol­lend, aber irgend­et­was an die­sem Lächeln mach­te mich unru­hig. Ich wuss­te nur nicht, was.

„Erzähl doch mal, was genau führt dich zu uns? In der Über­wei­sung steht ‚Depres­si­ver Erschöp­fungs­zu­stand‘, aber das ist ein wei­ter Begriff. Was quält dich?“

Zögernd begann ich zu erzäh­len. „Mein Vier­zig-Stun­den-Job. Mein neben­be­ruf­li­ches BWL-Stu­di­um. Mein Pri­vat­le­ben. Ein­fach alles. Ich bin erst vier­und­zwan­zig und habe jetzt schon das Gefühl, in einer Mid­life-Cri­sis zu ste­cken. Jeder reißt an mir her­um, nie kann ich irgend etwas zu Ende machen und ich habe immer Angst, nicht recht­zei­tig fer­tig zu wer­den. Ich möch­te kei­ne Feh­ler machen, und so bekom­me ich von über­all Druck. Die Welt scheint sich immer schnel­ler zu dre­hen, und ich kom­me ein­fach nicht mehr mit.“ Ich erklär­te ihr, dass ich im Job als Ver­triebs­in­nen­dienst­le­rin stän­dig unter Strom stün­de, kaum den Anfor­de­run­gen genü­gen kön­ne und dass mein Pri­vat­le­ben wegen des neben­be­ruf­li­chen Stu­di­ums bereits seit drei Jah­ren nicht mehr exis­tie­re. Ich schil­der­te ihr, wie ich unter Herz­ra­sen, erheb­li­chen Schlaf­stö­run­gen und chro­ni­schem Hän­de­zit­tern litt. Dass ich mich stän­dig fühl­te, als wür­de mich jemand wie eine Zitro­ne zusam­men­quet­schen. Außer­dem ver­gaß ich oft zu atmen. Syl­via blick­te nach­denk­lich auf mei­ne ange­kau­ten Fin­ger­nä­gel und nick­te abschlie­ßend. Ich kam mir aus­ge­fragt vor und war pein­lich berührt, einem wild­frem­den Men­schen sofort mein Inners­tes haar­klein dar­le­gen zu müssen. 

Aber Syl­via lächel­te nur – damit war ich fürs Ers­te entlassen.

Bei der abend­li­chen Zim­mer­kon­trol­le leg­te sie mir das The­ra­pie­pro­gramm vor. Es sah mor­gend­li­ches Schwim­men vor, Klang­mas­sa­gen, Krea­tiv­kur­se, regel­mä­ßi­ge wei­te­re Ein­zel­ge­sprä­che – und Grup­pen­sit­zun­gen. Dumpf schrill­te eine Alarm­glo­cke in mei­nem Kopf. Ich woll­te in kei­ner Grup­pe einen See­len­strip hin­le­gen. Schon gar nicht in einer unbe­kann­ten. Aber aus­wäh­len durf­te ich nichts eigen­stän­dig, und die­se Erkennt­nis ver­ur­sach­te ein unan­ge­neh­mes Krib­beln in der Magen­ge­gend. Ein Blick auf den Zeit­plan ließ mich schlu­cken. Ich war so eng getak­tet und hat­te so vie­le Berüh­rungs­punk­te zu ande­ren Men­schen, dass ich genau­so gut in mei­nem Groß­raum­bü­ro hät­te blei­ben kön­nen. In den dar­auf­fol­gen­den Tagen ver­such­te ich den Zeit­plan irgend­wie ein­zu­hal­ten. Das mor­gend­li­che Schwim­men und die Klang­mas­sa­gen waren der ein­zi­ge Licht­blick. Die Ein­zel­ge­sprä­che waren in Ord­nung und brach­ten mir zum Teil etwas mehr Ver­ständ­nis für mei­ne kör­per­li­chen Sym­pto­me. Was mich aller­dings völ­lig aus der Bahn warf waren die Grup­pen­sit­zun­gen, der soge­nann­te Stuhl­kreis. Alle hat­ten mehr oder weni­ger die glei­che Dia­gno­se – Burn­out –, aber ange­sichts der Pati­en­ten­ge­schich­ten frag­te ich mich, ob ich hier tat­säch­lich rich­tig war. Offen­bar gibt es bei die­sem Krank­heits­bild einen breit gefä­cher­ten Kata­log an Sym­pto­men. Mich mach­te es wahn­sin­nig, den Erzäh­lun­gen mei­ner Mit­pa­ti­en­ten über ihre selt­sa­men Erleb­nis­se lau­schen zu müssen. 

Man­che ihrer Ver­hal­tens­wei­sen stie­ßen mich ab.

Das brach­te mich kein Stück wei­ter, ganz im Gegen­teil. Müs­sen alle Grup­pen­mit­glie­der eine gan­ze The­ra­pie­stun­de mit der Fra­ge ver­brin­gen, ob Fat­ma nicht viel­leicht ein­fach ihrer Kol­le­gin den Locher hät­te über­las­sen sol­len, anstatt ihr damit auf den Kopf zu hau­en? Wäh­rend­des­sen rutsch­te ich auf mei­nem Stuhl hin und hin­ter und sah stän­dig auf die Uhr oder aus dem Fenster.

„So, mei­ne Lie­ben“, hol­te Syl­via mich aus mei­nen Träu­me­rei­en zurück, „wol­len wir doch unse­rem Neu­zu­gang noch kurz die Gele­gen­heit geben, sich vor­zu­stel­len. Mela­nie, wür­dest du bit­te auf­ste­hen, damit alle dich sehen kön­nen? Erzähl uns doch bit­te etwas über dich und war­um du hier bist.“

Alles in mir sträub­te sich, und ich spür­te, wie mir das Blut ins Gesicht schoss. So eine pein­li­che Situa­ti­on. Das Früh­stück in mei­nem Magen zog sich zu einem fes­ten Klum­pen zusam­men. Ich fing an zu schwit­zen, stot­ter­te mir eini­ge Sät­ze ab und fühl­te mich nach­her ein­fach nur noch nackt. Ein Mau­se­loch hät­te mir über mei­ne Scham nicht hin­weg­hel­fen kön­nen. Ich schluck­te tap­fer ein paar Trä­nen herunter.

„Das war super, Mela­nie. Ab mor­gen früh darfst du übri­gens dann beim Töp­fer­kurs mit­ma­chen“, befand Syl­via. Ver­letzt ver­zich­te­te ich auf das Abend­essen und ver­steck­te mich bis zum Wecker­klin­geln unter mei­ner Bettdecke.

Am nächs­ten Mor­gen ver­such­te ich zwi­schen Schwimm-Ter­min und Früh­stück die The­ra­peu­tin sowie die Heim­lei­te­rin davon zu über­zeu­gen, dass ich in der Kli­nik nicht gut auf­ge­ho­ben wäre und sofort ent­las­sen wer­den müss­te. Dies wur­de mit der Begrün­dung abge­lehnt, dass jeder sol­che Start­schwie­rig­kei­ten hät­te und die­se ein gutes Zei­chen wären.

Ich war also eingesperrt.

Beim anschlie­ßen­den Früh­stück setz­te sich Fat­ma zu mir – aus­ge­rech­net die Frau, die ohne Unter­lass und in einer unglaub­li­chen Laut­stär­ke irgend­ei­nen ver­ba­len Müll von sich geben muss­te. Sie war ein­fach nicht zu stop­pen. Mein Gehirn schien anzu­schwel­len, ich konn­te bei dem Geplär­re nicht mehr den­ken. Ich wur­de immer wüten­der ange­sichts die­ser kon­stan­ten Respekt­lo­sig­keit. Am liebs­ten hät­te ich sie ange­brüllt, aber das war ver­pönt. Strei­tig­kei­ten soll­ten wir kon­struk­tiv lösen, immer posi­tiv und mit viel Ver­ständ­nis für die Gegen­sei­te. Fat­ma igno­rier­te die­ses Gesetz. Begrif­fe wie Ver­hal­tens­kon­trol­le und Gehirn­wä­sche schos­sen mir durch den Kopf. Ich hielt die Luft an. So muss­te sich ein Tsu­na­mi füh­len – erst lei­se sam­meln, dann laut alles unter sich begra­ben. Ich frag­te mich, wann ich wohl völ­lig durch­dre­hen wür­de. Nach­denk­lich mus­ter­te ich Fat­ma und über­leg­te, wie sie wohl zucken wür­de, wenn sie auf der Stel­le ersti­cken wür­de. Gezwun­ge­ner­ma­ßen, aber doch erleich­tert, flüch­te­te ich anschlie­ßend zu mei­nem Töp­fer­kurs. Auch wenn Töp­fern nie­mals mein Hob­by wer­den wür­de, so hat­te das Her­um­mat­schen mit Lehm doch etwas Erden­des. Völ­lig in mei­nen Gedan­ken ver­sun­ken, nahm ich die Mit­töp­fer nicht mehr wahr. Ein Moment der wohl­tu­en­den Trance. Mein Puls beru­hig­te sich etwas.

Plötz­lich durch­zuck­te mich ein Blitz­schlag, als Bernd – der dun­kel­blon­de Ran­da­lie­rer aus dem Park – mich unver­mit­telt anschrie.

„Was machst du da fürn Scheiß? Kannst du dir nicht ein biss­chen Mühe geben? Wenn es dir nicht passt, was wir hier machen, bleib gefäl­ligst mit dei­nem plat­ten Arsch zu Hause!“

Ich schluck­te und sah auf mei­ne Vase her­un­ter, die eher einer geschlos­se­nen Skulp­tur ähnel­te. Irgend­et­was knack­te in mei­nem Kopf, und aus einem Impuls her­aus warf ich ihm mei­ne Venus von Milo mit aller Wucht ins Gesicht. Bernd tau­mel­te rück­wärts, der Lehm­klum­pen hin­ter­ließ dre­cki­ge Spu­ren auf sei­nem hell­blau­en Hemd und sei­ner Hose. Eigent­lich über­all. Sich mit der einen Hand das rech­te Auge hal­tend, sprang Bernd mit einem Satz auf mich zu und ging mir mit der ande­ren Hand an die Keh­le. Erschro­cken japs­te ich nach Luft. Konn­te es noch schlim­mer kom­men? Ich hat­te doch gar nichts angestellt.

Syl­via und die Heim­lei­te­rin jedoch sahen das anders. Zwei Pfle­ger – Auf­se­her – hat­ten uns aus­ein­an­der- und zum soge­nann­ten Kon­flikt­be­wäl­ti­gungs­ge­spräch direkt in die Höh­le der Löwen gebracht. Bernd, so stell­te sich her­aus, konn­te nichts für sei­ne Reak­ti­on. Er war ein Bor­der­line-Typ, bes­ser oder beschö­nigt gesagt der Emo­tio­nal Impul­si­ve Typ. Er war sich kei­ner Schuld bewusst und stell­te sich ein­fach stur. Beschämt lenk­te ich ein – Gegen­wehr oder Ver­tei­di­gung zogen hier nicht. Wie­der schluck­te ich alles her­un­ter, aber inner­lich bro­del­te ich und wünsch­te mir, dass die­ser unan­ge­neh­me Mensch ein­fach tot umfiele. 

War es allen wirk­lich so unmög­lich, mich ein­fach nur in Ruhe zu las­sen?

Hat­ten sie nicht genug mit sich selbst zu tun? Muss­ten sie ihre Pro­ble­me kon­se­quent zu mei­nen machen?

Grü­belnd schlich ich in mein Zim­mer. Der Anblick, der sich mir dort bot, ließ mein Herz ste­hen­blei­ben. Ich hat­te die Tür noch in der Hand und hielt mich an ihr fest. „Fat­ma! Was … was tust du denn hier?“, konn­te ich nur stammeln.

„Man war der Mei­nung, dass ich dir ein biss­chen zur Sei­te ste­hen könn­te, Klei­nes. Ich habe schon vie­len bei ihren Start­schwie­rig­kei­ten gehol­fen. Sechs Mona­te bin ich nun schon hier.“ Wäh­rend sie mein – unser – Zim­mer in eine Hur­ri­kan-Land­schaft ver­wan­del­te, quas­sel­te sie unab­läs­sig wei­ter. Sie roch nach Ziga­ret­te. Ich ste­he gar nicht auf kal­ten Ziga­ret­ten­mief. Als Fat­ma mit ihrem dicken Zei­ge­fin­ger vor mei­ner Nase her­um­fuch­tel­te, bemerk­te ich neben besag­tem Ziga­ret­ten­ge­stank noch abge­stan­de­nen Kaf­fee. Schwe­res, bene­beln­des Par­füm ließ mei­ne Lun­gen­flü­gel zucken. Mir wur­de schlecht. Ich schob sie grob von mir und stürm­te an ihr vor­bei ins Bad. Wäh­rend ich mit dem Kopf über der Toi­let­ten­schüs­sel hing, fiel mein Blick auf mein Duschtuch.

„Du hast mein Dusch­tuch benutzt?“, quetsch­te ich müh­sam her­vor. Ich glaub­te gel­be Schat­ten auf dem hel­len Frot­tee ent­deckt zu haben.

„Ach ja, Schatz. Du nimmst mir das hof­fent­lich nicht übel. Ich hat­te mei­nes ver­legt. Aber wir woh­nen ja jetzt zusam­men“, erklär­te Fat­ma unbe­küm­mert und hing ihren haut­far­be­nen Rie­sen-BH an die Heizung.

Ich war sprach­los. „Hast … hast du auch mei­ne Zahn­bürs­te benutzt?“

„Iiih, das ist ja eine ekli­ge Vor­stel­lung! Nein, das wür­de ich nie tun!“, rief sie sicht­lich angewidert.

Ich hol­te tief Luft, riss mich zusam­men und ver­brach­te die nächs­te hal­be Stun­de damit ihr zu erklä­ren, dass mei­ne Sachen für sie unan­tast­bar wären, und sie gelob­te hoch und hei­lig, sich künf­tig dar­an zu hal­ten. Ich war genervt.

Als ich am Mor­gen danach aus der Dusche stei­gen und mich abtrock­nen woll­te, ging mein Griff nach dem Hand­tuch ins Lee­re. Es war weg. Spon­ta­ne Mord­ge­lüs­te mach­ten sich in mei­nem Kopf breit. Wie konn­te die­se dum­me Nuss nur so frech sein? Ich sprang nass in mei­nen Jog­ging­an­zug und stürm­te über den Flur zur Gemein­schafts­du­sche. Sie schloss gera­de die Tür hin­ter sich und hielt sich schnau­fend am nahe­ge­le­ge­nen Trep­pen­ge­län­der fest.

„Spinnst du? Du hast doch ver­spro­chen, dass du mei­ne Sachen nicht mehr anfasst!“ Auf­ge­bracht ver­pass­te ich ihr einen der­ben Schubs. „Unfass­bar!“

„Schrei doch nicht so, Klei­nes. Ist doch nur ein Hand­tuch.“ Wie zum Beweis hielt sie es hoch. Ich schnapp­te danach, doch sie zog ihre Hand wie­der weg, als wür­de sie mich fop­pen wol­len. Da brann­te in mei­nem Schä­del eine Siche­rung durch. Mit der einen Hand schnapp­te ich nach dem Hand­tuch, mit der ande­ren stieß ich Fat­ma von mir. Sie geriet ins Tau­meln, der obers­ten Stu­fe der lan­gen Trep­pe gefähr­lich nahe. In ihren nas­sen Schlab­ber-Flip-Flops fan­den ihre Füße jedoch kei­nen Halt. Mit einem ent­setz­ten Schrei und viel Getö­se segel­te sie die zwan­zig Stu­fen her­un­ter, schlug zum Schluss mit dem Kopf gegen den ecki­gen Gelän­der­ab­schluss und blieb regungs­los liegen.

Nach dem ers­ten Schock ver­schwand ich schnell wie­der in mei­nem Zim­mer, gera­de noch recht­zei­tig, bevor alle ande­ren Türen auf­ge­ris­sen wur­den. Mein Gott, ich hat­te gera­de jeman­den umge­bracht! Mein Herz ras­te. Was soll­te ich nur tun? Man wür­de mich sicher bald damit in Ver­bin­dung brin­gen. Angst, rich­ti­ge Ver­fol­gungs­angst mach­te sich in mir breit.

Aber es pas­sier­te nichts.

Natür­lich war Fat­mas Tod Tages­ge­spräch in jeder Grup­pen­sit­zung und jedem Kurs. Nie­mand brach­te jedoch mich mit der Sache in Ver­bin­dung. Man glaub­te an einen Unfall, immer­hin hat­te sie anstatt des vor­ge­schrie­be­nen rutsch­fes­ten Schuh­werks ihre quietsch­bun­ten Urlaubs-Flip-Flops getra­gen, die sie wäh­rend des Fal­lens auf der Trep­pe ver­lo­ren hat­te. Obwohl ich anfäng­lich ein schlech­tes Gewis­sen hat­te, fühl­te ich mich schnell sehr erleich­tert. Fat­mas Dau­er­ge­quat­sche hat­te mir zuge­setzt; nicht ein­mal mehr in mei­nem eige­nen Zim­mer hat­te ich eine Rück­zugs­mög­lich­keit gehabt. Ich erkann­te, dass ich die­ses Pro­blem tat­säch­lich eigen­stän­dig gelöst hat­te. Ich! In die­sem Hoch­si­cher­heits­trakt! Über die­se Vor­stel­lung sin­nie­rend nahm ich am nächs­ten Stuhl­kreis teil – und stell­te fest, dass mich die Pro­ble­me der ande­ren nicht mehr so berühr­ten wie am Anfang. Ganz im Gegenteil. 

Sie waren mir völ­lig egal. Mit einem wis­sen­den Lächeln hör­te ich ihnen zu.

Eini­ge Tage nach die­sem Vor­fall stell­te ich fest, dass der Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker Bernd mich bespit­zel­te. Wäh­rend alle ande­ren ihrem Tages­ge­schäft nach­gin­gen, lau­er­te er mir an jeder Ecke, bei jeder Gele­gen­heit und zu jeder Uhr­zeit förm­lich auf.

„Wie­so bist du nicht aus dei­nem Zim­mer gekom­men, als Fat­ma die Trep­pe run­ter­ge­flo­gen ist? Hast wohl was damit zu tun? Komm, erzähl schon!“ Er kam mir mit dem Gesicht so nah, dass sich unse­re Nasen­spit­zen fast berührten.

„Wür­dest du bit­te etwas mehr Abstand hal­ten? Ich füh­le mich bedrängt“, wies ich ihn zurück.

„Du wirst ja rot!“, lach­te er hämisch, stups­te mich an der Schul­ter und ließ mich stehen.

Mit der Zeit ent­wi­ckel­te sich mein Kli­nik-Auf­ent­halt zum Spieß­ru­ten­lau­fen, stän­dig war ich bedacht, Bernd nicht unnö­tig über den Weg zu lau­fen. Mei­ne Eupho­rie war in Para­noia umge­schla­gen, und mei­ne kör­per­li­chen Sym­pto­me wie Herz­ra­sen, Zit­tern und Atem­not waren wie­der da. Sogar noch schlim­mer als vor­her. Das Geschwa­fel im Stuhl­kreis wur­de wie­der uner­träg­lich, die The­ra­pie­sit­zun­gen sinn­los. Ich fühl­te mich in die Ecke getrie­ben wie eine träch­ti­ge Rat­te. Die idio­ti­schen Kli­nik-Regeln, die Frei­heits­be­rau­bung … was für ein Wahn­sinn! Eines Abends betrat ich erleich­tert mein Zim­mer, froh, der Meu­te und Bernd ent­ron­nen zu sein, und mit­ten­drin stand – Bernd. Er gab mir kaum Gele­gen­heit, mich von die­sem Schreck zu erho­len und fing sofort wie­der an, mich auszufragen.

„Ich wills jetzt end­lich wis­sen! Weißt du, dass ich seit­dem nicht mehr rich­tig schla­fen kann? Du bist schuld! Nur du! Ich weiß ganz genau, dass du es warst. Die arme Fat­ma. Gib es end­lich zu!“ Sein Zei­ge­fin­ger fuch­tel­te vor mei­nem Gesicht her­um. Wo soll­te ich mich ver­ste­cken, wenn ich schon in mei­nem eige­nen Zim­mer nicht in Sicher­heit war? Ich rann­te raus, zur Damen-Gemein­schafts­du­sche, und hock­te mich in einer Dusche in die Ecke. Zwei Minu­ten spä­ter flog die Tür auf und krach­te an die gegen­über­lie­gen­de Wand. Bernd.

„Hab dich! Los, auf­ste­hen. Komm jetzt mit. Wir gehen zur Heim­lei­tung. Ich will das geklärt haben!“ Er riss mich am Arm hoch und kugel­te ihn mir fast aus.

„Aua, Mann! Hast du sie noch alle?“, schrie ich ihn an, dass es hall­te. „Wie­so ist das dein Problem?“

„Mein Pro­blem?“, don­ner­te er mir ins Gesicht. Er pack­te mit der rech­ten Hand mei­nen Hals und drück­te mich an die Wand, so dass ich nach Luft japs­te. „Wir wol­len hier unse­re Pro­ble­me lösen, nicht wel­che ver­ur­sa­chen, du däm­li­ches Huhn!“ Sei­ne Unter­lip­pe zit­ter­te. Bene­belt trat ich ihm so fest ich konn­te in den Schritt. Das half. Ich konn­te mich lösen und auf den Flur ren­nen, aber am Trep­pen­ab­satz hat­te er mich schon wie­der ein­ge­holt. An dem glei­chen Trep­pen­ab­satz, an dem auch Fat­ma ins Stol­pern geriet. Er mach­te einen Satz auf mich zu, sei­ne Hand erneut auf dem Weg zu mei­nem Hals. Als sie mich berühr­te, mach­te ich eine ele­gan­te Dre­hung nach rechts, wich aus, und gab ihm einen der­ben Schubs an die Schul­ter. Der reich­te, um Bernd den glei­chen Weg die Trep­pe hin­un­ter neh­men zu las­sen wie Fat­ma. Auch er blieb ein­fach lie­gen und beweg­te sich nicht mehr. Die­ses Mal jedoch konn­te ich nicht mehr weg­ren­nen. Er hat­te viel zu viel Lärm gemacht, und so stand ich nur ver­stei­nert vor der Trep­pe und mur­mel­te unver­ständ­li­ches Zeug. „Ich … ich habe ihn stol­pern sehen und woll­te ihn fest­hal­ten … aber er war viel zu schwer für mich …“ Für die ande­ren sah es so aus, als hät­te ich einen schreck­li­chen Unfall mit ange­se­hen. Wie hät­ten sie mir auch etwas nach­wei­sen wollen? 

Der Tod hat­te doch etwas selt­sam Beruhigendes.

Mit Freu­de nahm ich an der nächs­ten Töp­fer­stun­de teil. Ich ver­sank gedank­lich der­art in mei­nem Lehm­hau­fen, dass ich ohne Pro­ble­me eine wun­der­schö­ne Vase gestal­te­te. Ich sang lei­se vor mich hin, als ich mit dem nas­sen Zei­ge­fin­ger leich­te Ver­tie­fun­gen in den Rand drück­te. Wie­der hat­te ich es geschafft, mein Pro­blem selbst zu lösen. Plötz­lich kam einer der Pfle­ger-Auf­se­her auf mich zu und flüs­ter­te mir zu, dass die Heim­lei­te­rin mich in ihrem Büro sehen möch­te. Irri­tiert blick­te ich von mei­nem Kunst­werk auf. „So? Wes­we­gen denn?“ Unru­he befiel mich. Der Pfle­ger beglei­te­te mich, und im Büro der Heim­lei­te­rin war­te­te eine Poli­zis­tin. Wie­der muss­te ich mei­ne Unfall­ge­schich­te erzäh­len. Aber das mach­te nichts, ich kann­te sie bereits auswendig.

„Tja, Frau Brink­ner … eine schlim­me Geschich­te. Es tut mir wirk­lich sehr leid, dass Sie mit­an­se­hen muss­ten, wie jemand vor Ihren Augen zu Tode stürzt. Der arme Mann hat sicher noch ver­sucht, sich an Ihnen fest­zu­hal­ten?“, frag­te die Beam­tin sachlich.

„Was … nein, das hat er nicht geschafft“, ent­geg­ne­te ich verwundert.

„Nun, wir haben in sei­ner Hand eine fili­gra­ne sil­ber­ne Hals­ket­te gefun­den, mit einem hei­li­gen Rafa­el als Anhän­ger. Ver­mis­sen Sie even­tu­ell Ihre Hals­ket­te?“ Die Poli­zis­tin schien mir direkt ins Gehirn zu sehen. Ich konn­te nichts dage­gen tun – mir wur­de unglaub­lich heiß. Ich fing an zu zit­tern, warf die Arme um mich, schrie, dass ich nichts dafür könn­te und war­um die gan­ze Welt auf mir her­um­ha­cken wür­de. Plötz­lich wur­de ich von hin­ten gepackt und hoch­ge­ho­ben. Ich trat um mich, aber ver­geb­lich. Der Pfle­ger hat­te mich im Sicher­heits­griff, und ich erin­ne­re mich nur noch an das Pie­ken im rech­ten Oberarm.

Als ich wie­der zu mir kam, war mir noch ziem­lich schwum­me­rig. Ich konn­te mich nicht bewe­gen, es fühl­te sich an, als wäre ich festgegurtet.

„Schon wie­der so ein Traum“, mur­mel­te ich vor mich hin. Ich war mit einer kusche­li­gen Decke zuge­deckt, und es war so ruhig, dass ich das Blut in mei­nen Ohren rau­schen hören konn­te. Wenn das doch so blei­ben könn­te, dach­te ich sehn­süch­tig. Dif­fu­ses bläu­li­ches Licht kam von irgend­wo her. Irgend­wann hol­te mich das Klim­pern eines Schlüs­sel­bun­des zurück. Der Pfle­ger Micha­el kam mit einem Tablett ins Zimmer.

„So, heu­te Mit­tag gibt es Kar­tof­fel­knö­del und Gulasch. Komm, Mela­nie, ich hel­fe dir.“

„Micha, war­um kann ich mich nicht bewe­gen?“, hör­te ich mich lallen.

Der Micha. Er war immer so nett. „Ich fürch­te, das wird jetzt eine gan­ze Wei­le so blei­ben, Mela­nie. Zu dei­nem Schutz bleibst du jetzt erst ein­mal im Bett. Scha­de, ich dach­te, du packst das hier.“ Er steck­te mir mit einer Plas­tik­ga­bel ein Stück Kloß mit Sau­ce in den Mund. Ich run­zel­te die Stirn – wie mein­te er das? Mei­ne Pro­ble­me hat­te ich doch ganz allei­ne gelöst, trotz aller Schwie­rig­kei­ten. Ich war stolz auf mich. Nun bekam ich nur noch Ein­zel­sit­zun­gen mit Syl­via. Aus dem ver­hass­ten Stuhl­kreis war ich raus und mein Ter­min­plan war wie­der überschaubar.

Fes­te Mahl­zei­ten, gere­gel­te Uhr­zei­ten – end­lich hat­te ich Ruhe. 


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