Der Kurs der menschlichen Entwicklung
„Anfang des dritten Jahrtausends n. Chr. war der moderne westliche Mensch so weit in der Evolution vorangeschritten, dass er ein bequemes und sicheres Leben führen konnte.“ – So oder ähnlich könnte ein Kapitel im Geschichtsbuch unserer Nachfahren beginnen.
„Er hatte viele Technologien und Konzepte entwickelt, die ihm das Leben stark vereinfachten. Jeder verrichtete die Arbeit, die am besten seinen Fähigkeiten entsprach, und so gab es Landwirte, Gemüsebauern, Bäcker, Händler aller Art, Maurer, Ärzte, um nur einige zu nennen. Man teilte sich einfach die Arbeit, und was man nicht selbst machen konnte, ließ man andere gegen Bezahlung erledigen. Niemand musste mehr alles allein bewältigen. Wenn man Nahrungsmittel brauchte, ging man in ein Geschäft und kaufte es sich einfach. Man musste sich nicht mehr vor wilden Tieren fürchten – wollte man ein Zuhause, kaufte oder mietete man eines. Hatte man doch einmal mit jemandem Streit, sprach oder verhandelte man friedlich darüber. Niemand musste mehr für die Befriedigung seiner Grundbedürfnisse anderen etwas wegnehmen, diskriminieren, brandschatzen, vergewaltigen oder töten.“
Oder?
Wir alle wissen, dass Anfang des dritten Jahrtausends nicht alles gut war. Kriminalität war an der Tagesordnung, nicht jeder hatte einen Job, mit dem er seine Familie ernähren konnte, große Unzufriedenheit und viele Sorgen ließen die Menschen entweder in eine gefährliche Lethargie oder aber in Aggressivität gegen andere verfallen. Nicht alle Eltern konnten sich vernünftig um ihre Kinder kümmern – viele blieben den ganzen Tag über sich selbst überlassen und genossen kaum Erziehung.
Man beschwerte sich über alles und unternahm nichts.
Andere wähnten sich kindlich-naiv in einer Sicherheit, die es so noch nie gegeben hatte. Sie schauten nicht über den Tellerrand und konnten sich nicht vorstellen, dass es außerhalb ihrer sicheren Blase auch ganz anders aussehen konnte. Vor allem die Jugendlichen und jungen Erwachsenen hatten vom wirklichen Leben kaum eine Ahnung. Sie waren zu sehr in der digitalen Welt verhaftet und lebten in vermeintlicher Sicherheit.
Dann kam COVID-19.
Diese Seuche schränkte die Menschen von heute auf morgen in allen Lebensbereichen ein. Anfangs hatten alle nur Angst. Diejenigen, die nicht an der Krankheit gestorben waren, drehten nach wochenlangem Hausarrest durch. Sie fühlten sich in ihrer Freiheit beschnitten und wollten ihr altes Leben wiederhaben – das Leben, das ihnen vorher so zuwider geworden war. Aber das erlaubte Corona nicht. Gnadenlos raffte das Virus weltweit unzählige Menschen dahin. Alles war anders und führte dazu, dass versteckte Denk- und Verhaltensweisen wieder zum Vorschein kamen. Rassismus, Diskriminierung, Feindseligkeit, aber auch naïve Unachtsamkeit nahmen global wieder Fahrt auf.
Wozu sollte das alles dienen, wohin führen?
Die Ereignisse drehten sich immer schneller. Wie Atome einer Materie, die immer dichter wird, bevor sie ihre eigenen Grenzen sprengt. Irgendwann würde die Welt platzen.
Was bedeutet das für uns?
Dass es erst noch schlimmer werden muss, bevor es wieder besser werden kann.
Der Mensch macht im Laufe seines Daseins bekanntermaßen mehrere Entwicklungsstadien durch – Säugling, Kleinkind, Jugendliche/r, Erwachsene/r, Senior/in. Wir alle wissen, dass es vor jedem neuen Entwicklungsschub ein wenig anstrengend für alle Beteiligten wird. Man macht zunächst einen Schritt zurück, bevor man mit zwei großen Sprüngen das nächste Level erklimmt.
Kinder werden weinerlicher, Jugendliche noch unverständlicher, Erwachsene durchleben eine Midlife Crisis, bevor sich dem Betreffenden ganz neue Welten auftun.
Die Menschheit als Ganzes unterliegt den gleichen Naturgesetzen – das nennen wir Evolution. Ganz offensichtlich befinden wir uns gerade wieder unmittelbar vor einem solchen Entwicklungssprung. Enorm muss er sein – bei dem Anlauf, den wir nehmen …Wir gehen so viele Schritte zurück, dass wir wieder bei den Stammesfehden angekommen sind. Noch einer, und wir sind zurück in der Steinzeit angekommen – und ziehen uns wieder gegenseitig den Knüppel über den Schädel.
Zugegeben:
So manches Mal wünsche ich mich wieder zurück in den Sandkasten. Da würde ich dem unliebsamen Mitbuddler bei Bedarf einfach mit der Schüppe eins überziehen. Heute weiß ich, dass das nur sehr kurzfristig Befriedigung bringt, das Problem aber keinesfalls aus der Welt schafft. Im Gegenteil – durch Nichtstun und Wegschauen wird es nur schlimmer.
Wir zünden die Autos unserer Mitmenschen an, bespucken und verprügeln andere. Der moderne, kultivierte Mensch randaliert, diskriminiert, brandschatzt, missbraucht und nimmt sich einfach, was er will. Unzählige Dinge könnte man aufzählen. Wenn unsere Nachfahren in 200 Jahren in den Geschichtsbüchern blättern, werden sie sich beschämt fragen müssen, wie wir – ihre Vorfahren – trotz allen Fortschritts wieder in tiefe Dunkelheit fallen konnten.
Noch besteht die Möglichkeit, dass wir das nächste Level gemeinsam schaffen – wir haben bereits mehr als ausreichend Anlauf genommen.
Es wird Zeit, dass wir springen – und zwar weit genug.