von Sandra Barbosa da Silva
Tatsachenbericht (nach einem Interview von mir)
Genre: Drama
Lesedauer: ca. 10–15 min.

Es war nur ein Wimpernschlag. Eine Sekunde Unachtsamkeit, die mein Leben von Grund auf änderte.
An einem warmen, sonnigen Tag im Juli neunzehnhundertsiebenundneunzig stolperte ich bei der Arbeit über einen lockeren Teppichboden und stürzte eine längere Treppe hinunter. Oberschenkelbruch.
Von diesem Moment an ging es nur noch abwärts. Heute sitze ich im Rollstuhl und bin auf fremde Hilfe angewiesen, was mir sehr unangenehm ist.
Bis zu diesem Tag X war mein Leben perfekt. Mit damals vierundvierzig Jahren war ich, Reinhold Grober*, im besten Alter. Ich war glücklich verheiratet und hatte einen sicheren, gut bezahlten Job als Bauhofverwalter und ‑einkäufer bei der Stadt. Jahrelang fuhren meine Frau und ich mit befreundeten Paaren in den Skiurlaub oder spielten Tennis. Mein Motorbootführerschein für die Binnenfahrt ermöglichte mir den Besitz einer Motoryacht von zehneinhalb Metern Länge – mal eben über ein Wochenende irgendwohin zu schippern war ein Luxus, den ich mir leisten konnte. Ich hatte alle Freiheiten, die ich mir vorstellen konnte.
Es war ein Trugschluss zu glauben, dass es bis an mein Lebensende so weitergehen könnte.
Nach dem Unfall lief ich zunächst mit Stützen, eine Operation war geplant. Als aber meine damalige Frau Gudrun* an Krebs erkrankte und ich jeden Tag im Krankenhaus bei ihr war, rutschte die Operation zunächst in weite Ferne. Zu allem Unglück brach ich mir während dieser Zeit auch noch die Hüfte und konnte gar nicht mehr laufen. Aus diesem Grund wurde ich letztendlich doch sofort operiert, aber die darauffolgende Reha lehnte ich ab, da es Gudrun immer schlechter ging. Ich brachte es nicht fertig, sie mutterseelenallein im Krankenhaus sterben zu lassen. Die Wochen bis zu ihrem Tod waren für mich sehr anstrengend und aufzehrend.
Das gebrochene Bein heilte nie wieder richtig aus, es blieb kürzer als das andere, so dass ich einen erhöhten Schuh bekam. Dennoch humpelte ich dauerhaft, was meiner lädierten Hüfte weitere Schäden zufügte. An Sport war nicht mehr zu denken.
Zu diesem Zeitpunkt dämmerte mir langsam, dass ich immer weiter ins Abseits gedrängt wurde.
Läufst du an Gehhilfen, ist das für dein Umfeld noch normal – man vermutet zunächst eine vorübergehende Erkrankung. Humpelst du aber dauerhaft und trägst auch noch einen erhöhten Schuh, wirst du von vielen Menschen schon schief angeguckt. Du weichst von der Norm ab und merkst, wie mittelalterliche Glaubenssätze ganz schnell wieder an die Oberfläche kommen und wo Integration bereits ihre Grenzen erreicht hat.
In den ersten zwei Jahren nach dem Unfall fuhr ich noch mit meinen Freunden in den Skiurlaub – einfach, um dabei zu sein, mich nicht allein zu fühlen. Aber es tat weh, den anderen beim Skifahren zuzuschauen – einem Sport, den ich für mein Leben gern mochte und nun nie wieder ausüben würde. Die anderen kamen immer nachmittags von ihrer Tour zurück, und weil wir früher nach dem Ski üblicherweise noch ein Bier tranken, kam der eine oder andere Kumpel auch in diesen beiden Jahren noch auf ein Getränk vorbei. Weil wir es immer so taten. Aber das Bier konnte ich auch allein trinken; ihr Mitleid zog mich noch mehr runter. In den Jahren darauf fuhr ich nicht mehr mit, und nach und nach schlief der Kontakt ein.
Wenn du nichts mehr kannst oder zu bieten hast, nicht mehr mithalten kannst, bist du aus der normalen Gesellschaft ganz schnell raus. Der Weg in die Vereinsamung ist frei.
Dein Umfeld ist nicht immer bereit, das eigene Heim für dich umzubauen – oder kann es sich finanziell nicht leisten. Diese Menschen kannst du nicht mehr besuchen, und irgendwann reißt der Kontakt auch dort einfach ab. Du musst deine ganze Lebensweise sowie deine Art zu denken komplett umstellen. Dein Umfeld ist dazu oft nicht in der Lage, und so ist man ist nicht mehr kompatibel. Ich musste mir aufgrund der örtlichen Gegebenheiten einen neuen Frisör suchen und einige Ärzte wechseln. Restaurants wählen wir grundsätzlich nur danach aus, ob die Toiletten für mich erreichbar sind oder nicht. Wenn die Waschbecken unterfahrbar sind, kann auch ich mir die Hände waschen. Wenn nicht, komme ich kaum an den Wasserhahn, weil ich mir selbst im Weg bin.
Deine Familie wird durch deine Behinderung mitunter in große finanzielle Probleme gestürzt – nicht nur die Umbauten wie ein neues Geländer für den Treppenlift, unterfahrbare Küchenschränke, ein barrierefreies Bad oder ein bodengleicher, verbreiterter Hauseingang kosten Unsummen. Wer schon einmal einen Bänderriss hatte weiß, wie kompliziert es werden kann, allein nur in die Dusche zu steigen. Dazu kommen noch die medizinischen Geräte wie Stützen, später Rollator, Rollstuhl sowie diverse Sitzkissen, deren Kosten nicht immer von allen Kassen übernommen werden.
Ich hatte Glück im Unglück – da es sich um einen Unfall handelt, zahlt die Unfallkasse. Die haben andere Auflagen als die Krankenkassen und zahlen für Dinge, die du sonst selbst bezahlen musst. Allein der elektrische Rollstuhl würde neu mehrere tausend Euro kosten. Ich habe mir ein spezielles Sitzkissen für den Rollstuhl gönnen müssen – wenn du fast den ganzen Tag nur sitzt, hast du irgendwann Steiß- und Rückenprobleme, und die Beine werden auch immer schwächer – von offenen Stellen am Po ganz abgesehen. Die Kosten von mehreren hundert Euro hat glücklicherweise die Unfallkasse übernommen. Die Krankenkassen sagen zwar immer „wir machen alles möglich“, wenn du aber etwas brauchst, fühlst du dich wie ein Bettler, obwohl du als gesunder Mensch jahrelang deine Beiträge gezahlt hast. Als Person mit Behinderung bekommst du leider keinerlei Zusatzversicherung. Angeblich wird so viel für uns behinderte Menschen getan und es gibt sicherlich auch viele gute Ideen, die aber nicht bis zu Ende umgesetzt werden – oft aus Geldmangel. Der Zugang zu meinem Unfallarzt ist für mich kaum zu bewältigen – neben einem schrägen, holprigen Praxiszugang ist dieser auch noch von Sträuchern so zugewachsen, dass mir die Äste in die Arme pieken, wenn ich mit dem Rollstuhl vorfahre. Die Tür geht nach innen auf und ist so schwer, dass ich sie im Sitzen gar nicht aufbekomme. Den Unfallarzt darf ich leider nicht wechseln, und so kann ich ihn ohne Begleitung nicht aufsuchen.
Meine zweite Frau Martina* ist mittlerweile mein linkes und mein rechtes Bein gleichzeitig – und manchmal auch noch beide Arme.
Muss ich zum Rathaus, hopse ich mit dem Scooter über das Kopfsteinpflaster, das nebenbei auch noch Löcher hat. Fuß- und Gehwege in der Stadt sind zum Teil so renovierungsbedürftig, dass ich auf der Straße fahren muss. Damit nerve ich wiederum die anderen Verkehrsteilnehmer, die rücksichtslos nah an mir vorbeifahren, wild hupen und mich beschimpfen. Meistens sind es die großen SUVs, die mich mit Tempo sechzig in der Stadt überholen. Überraschenderweise sind es oft die gleichen Automodelle, die gerne die Behindertenparkplätze blockieren. Spreche ich die Fahrer an, wollen sie „doch nur mal eben schnell etwas besorgen oder zum Geldautomaten“. Den Parkplatz geben sie trotzdem nicht frei. Gehbehinderte, wie ich es damals noch war, kreisen deswegen so lange über den Parkplatz, bis ein Behindertenplatz wieder frei wird. Man staunt und lernt, wie lange so eine angeblich kurze Besorgung dauern kann. Es gab Tage, an denen kam ich ohne das Bargeld aus dem Automaten wieder nach Hause. Da ich mittlerweile nicht mehr Autofahren kann, sondern mit dem Scooter zum Einkaufen fahre, belastet mich das Parkplatzproblem nicht mehr. Ob ich darüber weinen oder mich freuen soll, weiß ich nicht. Das Traurige ist, dass das Parken für nicht behinderte Personen auf einem Behindertenparkplatz laut Straßenverkehrsordnung immer noch nicht verboten ist. Den Scooter darf ich als behinderter Mensch allerdings nicht überall einfach so abstellen, da ich Ausfahrten versperren könnte. Das ist nur eine der gesetzlichen Ungerechtigkeiten, mit denen wir Betroffene tagtäglich zu kämpfen haben.
Es gibt allerdings auch gute Momente, die mir zumindest kurz Hoffnung schenken. Im örtlichen Supermarkt bat mich der Niederlassungsleiter, einmal mit dem Scooter alle Gänge abzufahren und zu schauen, wie barrierefrei sein Geschäft sei. Meiner Ratschläge gemäß stellte er seine Regale und die Kassen auf. Ich war begeistert. Endlich einer, der mitdachte. Heute jedoch stehen dort ständig irgendwelche Getränkepaletten im Weg, so dass ich nur noch den vorderen Bereich des Marktes befahren kann. An die Getränke komme ich allein nicht heran. Dasselbe im Baumarkt. Im Eingang ist immer noch alles halbwegs barrierefrei, weiter nach hinten verjüngen sich die Regalabstände und am Ende komme ich auch hier wieder nicht ohne fremde Hilfe weiter. Die Mitarbeiter können oft nicht helfen, weil sie zu wenig Zeit haben und nur rennen müssen. Die Menschen, die in den Märkten einkaufen, denken im Regelfall auch nur an sich. Sie lassen ihren Einkaufswagen einfach dort mitten im Gang stehen, wo ihnen gerade etwas eingefallen ist – und ich muss ihn mühevoll an die Seite schieben, damit ich vorbeikomme. Mittlerweile fahre ich mit dem Scooter hin und nehme den Klapprollator mit. Dann bin ich allerdings wieder darauf angewiesen, dass ihn mir nach dem Besuch jemand wieder fachgerecht an den Scooter hängt – allein schaffe ich das nicht. Ein Autofahrer hielt einmal an und fragte, ob ich Hilfe bräuchte – der Rollator schleifte über den Boden. Es gibt sie, die hilfsbereiten Menschen. Leider sind es noch zu wenige. Geschäfte, Märkte, Arztpraxen – egal, wen ich aufsuchen muss oder möchte – ich rufe immer vorher an und frage nach der Barrierefreiheit. Alles muss organisiert sein, sonst erlebe ich eine böse Überraschung.
Aber auch das Wort „Barrierefreiheit“ lässt sich dehnen wie ein Kaugummi. Kürzlich in einer Arztpraxis wurde mir eben dieses bestätigt. Man verfüge über einen Aufzug, die Türen seien breit genug und man könne im Rollstuhl bis ins Behandlungszimmer fahren. Die Wirklichkeit sah etwas anders aus – in den Aufzug kam ich nur vorwärts hinein, aber er war so schmal, dass ich den Rollstuhl nicht wenden konnte. Oben angekommen, musste ich rückwärts wieder hinaus – der Rollstuhl hat nur leider keine Rückspiegel. Bedingt durch Corona hatte man jedoch das Wartezimmer bis in den Flur vergrößert, so dass Stühle den Zugang zur Praxis versperrten. Diese musste ich an die Seite schieben. Manche Türen sind oft nur so breit, dass vielleicht der Rollstuhl gerade eben hindurchpasst, die Arme des Fahrenden aber nicht einkalkuliert sind. Wenn du niemanden zum Schieben hast, hast du verloren. Manche Läden bestätigen mir am Telefon, dass sie über eine Rampe verfügen – aber die fährst du mit deinem Rollstuhl auch nicht allein hoch. Das schaffst du nur rückwärts und mit Beinarbeit. Aber wer, der im Rollstuhl sitzt, ist bitte noch in der Lage, Beinarbeit zu leisten? Meine Beine sind durch das ständige Sitzen immer schwächer geworden. Viele Betroffene trauen sich nicht, fremde Menschen anzusprechen und sie um Hilfe zu bitten. Ich habe diesbezüglich keine Berührungsängste, und bisher hat noch niemand „Nein“ gesagt. Der Umgang der gesunden Menschen mit uns sieht im Allgemeinen jedoch meistens respektloser aus. Während Kinder, junge Erwachsene und Sportler noch gut gefördert werden, kümmert man sich bei uns „Alten“ nur noch um das Nötigste. Ob in der Innenstadt, auf Gehwegen, in Supermärkten – die meisten Menschen interessiert ein Mensch im Rollstuhl oder im Scooter nicht. Ganz im Gegenteil – wir sind Störenfriede, die Platz wegnehmen, den Verkehr aufhalten oder einfach im Weg herumstehen. Die meisten denken nur an sich, das Wort Empathie kennen viele nicht. Wirklich schlimm sind die jungen Menschen, die ein Miteinander nicht beigebracht bekommen haben. Sie fahren auf dem Rad zu viert nebeneinander und ich halte den Scooter meistens an, weil ich mir nicht sicher bin, ob sie mich überhaupt wahrnehmen. Einmal hupte ich vorher – da wurde ich angeschnauzt, was ich mir denn einbilde, man sei schließlich nicht blind. Ein anderes Mal hupte ich aufgrund dieser Erfahrung nicht – und wurde angeschnauzt, ob ich keine Hupe hätte. Die Krönung war ein Jogger am See vor einigen Monaten. Manche von ihnen kann man mit den rücksichtslosen Mountain-Bikern in einen Topf stecken. Dieser sportliche Herr lief auf der linken Seite des Gehweges, meine Frau Martina und ich rechts, schon auf der Rasenkante. Mit einem unwirschen „Platz da!“ schubste er mich zur Seite und rannte weiter. Ich konnte mich gerade noch an meiner Frau festklammern, sonst wäre ich böse gestürzt. Sicher konnte der Mann nicht anders, weil er sich sonst seine Bestzeit ruiniert hätte. Seitdem sind Spaziergänge ohne Rollstuhl ebenfalls tabu für mich – schließlich kann ich den Tätern außer Verwünschungen nichts hinterherwerfen.
Hast du jemanden in deinem Freundeskreis, der dich hintenherum als Krüppel bezeichnet, ist das schon ein derber Schlag unter die Gürtellinie. Als Martina und ich heirateten, fragte einer meiner sogenannten Freunde meine neue Schwägerin, warum Martina sich so einen Krüppel ausgesucht habe, es gebe doch schließlich noch andere Männer. Diesen Vorfall habe ich bis heute nicht verdaut.
Die Gesellschaft ist an ihrem eigenen Egoismus schwer erkrankt. Wohl demjenigen, der noch mithalten kann. Und der nicht versehentlich einmal einen Wimpernschlag lang unaufmerksam ist.
(*Namen geändert)
Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht?
von Sandra Barbosa da Silva
