Was ist Realität und wo?

Alles, was wir anfas­sen kön­nen, hal­ten wir für real. Genau­so wie alles, was wir erle­ben oder füh­len. Aus den Din­gen, die wir anfas­sen kön­nen, stel­len wir neue Din­ge her, die wir eben­falls anfas­sen kön­nen. Wir benut­zen sie in unse­rem täg­li­chen Leben. Die­se Daseins­form bezeich­nen wir als dich­te Mate­rie. Sto­ße ich mir den Kopf an einem Hän­ge­schrank, ist der Schrank dich­ter als mein Kopf und der Schmerz sehr prä­sent – auch wenn letz­te­rer nur ein Gefühl und somit unsicht­bar ist, emp­fin­de ich ihn als real.

Rea­li­tät stellt sich jedoch nicht für jeden auf die glei­che Wei­se dar. – War­um nicht?

Dichter Nebel verhängt den See und die Baumgruppen im Steinfurter Bagno-Park.

„Der Rea­list ist inso­fern naiv, als er nicht zur Kennt­nis nimmt, dass wir alle nicht ‚in der Welt‘ leben, son­dern nur in dem Bild, das wir uns von der Welt machen.“

HOIMAR VON DITFURTH (1921–1989)

Um die Welt wahr­zu­neh­men, brau­chen wir unse­re Sin­ne. Aller­dings sind die­se (genau­so wie unser Aus­se­hen) von Mensch zu Mensch anders ausgeprägt.

Ich bin zum Bei­spiel ein kin­äs­the­ti­scher Typ, das heißt, ich muss etwas eher füh­len, rie­chen oder spü­ren als sehen oder hören. Wenn du ein visu­el­ler Typ bist (also eher sehen musst, um zu begrei­fen) und wir bei­de den glei­chen Gegen­stand betrach­ten oder die glei­che Situa­ti­on erle­ben, kön­nen wir völ­lig unter­schied­lich emp­fin­den und wahr­neh­men. Zwei voll­kom­men unter­schied­li­che Dar­stel­lun­gen kön­nen das Ergeb­nis sein. 

Wer von uns bei­den hat recht? – Wir beide.

Schau­en wir uns ein Bei­spiel an: Klei­der machen Leu­te – ein abge­dro­sche­nes Kli­schee. Lei­der immer noch all­zu weit ver­brei­tet. Bist du zum Bei­spiel Geschäfts­füh­rer einer Bank und läufst im Hand­wer­ker­dress her­um, wirst du auch als sol­cher behan­delt – dei­ne Rea­li­tät wird sich schlag­ar­tig anders anfüh­len. Du schlüpfst damit in eine Rol­le, kannst die Din­ge anders erle­ben, als es dir ohne Ver­klei­dung mög­lich wäre. Ver­mut­lich begreifst du schnell, wie die Welt eines Hand­wer­kers beschaf­fen sein muss, und dass sie kaum Schnitt­men­gen mit der eines Ban­kers hat. 

Unter­schied­li­che Kul­tu­ren und Lebens­wei­sen auf ande­ren Kon­ti­nen­ten wir­ken auf man­che von uns wie Parallelwelten.

Wir Men­schen aus den Indus­trie­län­dern leben gänz­lich anders als unse­re Mit­men­schen in den ärme­ren Län­dern, mit völ­lig unter­schied­li­chen Wert­vor­stel­lun­gen und Regeln. Die­se und unse­re gesell­schaft­li­chen Nor­men sind das, was unse­re Rea­li­tät bestimmt – wir Indus­trie­welt­ler sind ihre Skla­ven (oder bes­ser gesagt unse­re eige­nen). Wir sind abhän­gig von Din­gen, die wir selbst geschaf­fen haben und die es in ande­ren Kul­tu­ren zum Teil nicht gibt – den­noch hal­ten wir unse­ren Zustand für den bes­se­ren. Aber brau­chen wir wirk­lich all die mate­ri­el­len Din­ge, mit denen wir uns umge­ben? Sie sind es nicht, die uns zu einem bes­se­ren Men­schen machen.

Wenn du mor­gen dei­nen Job ver­lierst, stürzt du in ein tie­fes Loch, kannst dei­ne Rech­nun­gen nicht mehr bezah­len und bist Gast bei der Arbeits­agen­tur. Auf ein­mal fühlst du dich wert­los. Die­se Welt hast du bis­her viel­leicht nicht gekannt, trotz­dem war sie vor­her schon da. 

Du hast sie nur nicht wahr­ge­nom­men – oder nicht in ihrer Tiefe.

Unse­re Wirk­lich­keit ist wie das Spiel des Lebens: Zu unter­schied­li­chen Lebens­pha­sen oder ‑situa­tio­nen neh­men wir an ver­schie­de­nen Rea­li­tä­ten teil. Ja, sogar täg­lich – mei­ne Arbeits­welt und mein Pri­vat­le­ben zum Bei­spiel sind so unter­schied­lich, dass ich zwi­schen den Wel­ten pen­de­le. Manch­mal gleicht das Leben einem Zir­kel­trai­ning. Ich muss respek­tie­ren, dass dei­ne Welt anders aus­sieht als mei­ne, und dabei hilft es mir, wenn ich mir vor­zu­stel­len ver­su­che, wie sich dei­ne für dich anfüh­len muss. Ich kann nicht von mei­ner Wirk­lich­keit aus­ge­hen und dar­auf schlie­ßen, dass dei­ne genau­so aus­sieht, dich die glei­chen Din­ge betrof­fen machen oder dass mein Wer­te­emp­fin­den auch auf dich anwend­bar ist. Das bedeu­tet, dass nie­mand dem ande­ren in des­sen Rea­li­tät rein­zu­re­den, geschwei­ge denn sie zu beur­tei­len hat. Wir kön­nen dabei nur Äpfel mit Bir­nen vergleichen.

Din­ge, die uns nicht betref­fen, sind für uns zunächst weit weg oder gar nicht real.

Das bes­te Bei­spiel hier­für ist Coro­na. Als die Nach­rich­ten anfangs nur aus Chi­na kamen, beschäf­tig­ten sie uns wenig bis gar nicht. Je näher die Seu­che kam, des­to inter­es­san­ter wur­de sie für uns. Aber auch, als um uns her­um die ers­ten Mit­men­schen star­ben, gab es immer noch Leu­te, die die Gefähr­lich­keit unter­schätz­ten – weil sie nicht betrof­fen waren und das Virus für sie nicht existierte.

Wie bereits erwähnt, hel­fen dir dei­ne Sin­ne dabei, die­se Welt zu erkunden.

Und da dei­ne Wahr­neh­mung genau­so ein­zig­ar­tig ist wie du, siehst du die Welt auch nur durch dei­ne eige­ne Bril­le. Eben­so sehe ich sie durch mei­ne – und somit exis­tie­ren bei­de Ver­sio­nen neben­ein­an­der, eine kann nicht rich­ti­ger sein als die ande­re. Nur zusam­men kön­nen wir sie holis­tisch erfahren.

Unser Kör­per wird durch Hor­mo­ne und bio­elek­tri­sche Impul­se gesteuert.

Bei­de kannst du nicht sehen, aber da die Wis­sen­schaft sie bewie­sen hat, glaubst du dar­an. Lie­be oder Hass hat sie bis­her nicht bele­gen kön­nen – sicher hältst du bei­des den­noch für wahr. Du weißt, dass zwi­schen Men­schen Bezie­hun­gen bestehen kön­nen, obwohl du sie weder sehen noch anfas­sen kannst. Du lebst nach gesell­schaft­li­chen Regeln, nach Glau­bens­sät­zen, die man dir aner­zo­gen hat. Die meis­ten Men­schen stel­len die­se ihr Leben lang nicht in Frage.

Dein Ver­stand gleicht sämt­li­che Ein­drü­cke und Emp­fin­dun­gen mit ihm bekann­ten Mus­tern ab und erstellt eine Bewer­tung – dei­ne Ansicht der Dinge.

Nach die­sem Mus­ter beur­teilst du ande­re und bist abge­sto­ßen, wenn sie nicht genau­so ticken wie du (sie­he dazu auch das Gesetz der Anzie­hung).

Wenn dir jemand bewusst oder unbe­wusst eine unwah­re Geschich­te erzählt, glaubst du sie trotz­dem, weil du der Per­son ver­traust. Für dich ist der Inhalt real. Vie­le von uns sind reli­gi­ös und glau­ben an die Inhal­te, die ihnen durch ihre Erzie­hung ver­mit­telt wur­den – nach­prüf­bar oder beleg­bar sind höchs­tens weni­ge Bruch­stü­cke davon. Vie­les davon basiert auf Inter­pre­ta­tio­nen der Fundstücke.

Die unter­schied­lich dich­ten Rea­li­täts­ebe­nen ver­mi­schen sich regel­mä­ßig, wir­ken auf­ein­an­der ein. Das tun sie auch, ohne dass du es merkst.

Stell dir die unter­schied­li­chen Rea­li­tä­ten wie die Hand­lungs­strän­ge einer Geschich­te vor. Sie sind unter­schied­lich lang, man­che sind kurz­le­big, ande­re dau­ern ewig. Alle Strän­ge zusam­men erge­ben wie ein dickes Kabel die Welt, in der du dich bewegst. Durch dei­ne Hand­lun­gen wählst du jeden Tag aufs Neue, auf wel­chem Strang du dich bewe­gen willst.

Der Zustand zwi­schen Wachen und Schla­fen – wie real ist er für dich?

Du bist ja dabei, also kann er nicht unwahr sein. Hast du schon ein­mal „bewusst“ im Traum gedacht „das muss ich gleich auf­schrei­ben, wenn ich wach bin“ und wuss­test nach dem Auf­wa­chen nur noch, dass du etwas auf­schrei­ben woll­test? Hat sich ein Traum schon ein­mal bis in dei­nen All­tag geschlän­gelt und dir das Leben schwer gemacht? Wir wirk­lich war das? Natür­lich muss man Träu­me inter­pre­tie­ren. Die See­le kom­mu­ni­ziert aus­schließ­lich in Bil­dern, sie kann kei­ne wort­rei­chen Abhand­lun­gen aus­spre­chen, die wir unmit­tel­bar ver­ste­hen kön­nen. Wenn mich Nacht für Nacht das glei­che Mons­ter auf­frisst, dann soll­te ich in mei­nem Leben nach etwas suchen, dass mir sämt­li­che Ener­gie raubt, mich fer­tig­macht und mich – auffrisst.

Wir bekom­men zum Teil wert­vol­le Hin­wei­se aus der Traumwelt.

Gehen wir die­sen nach, kön­nen sie mög­li­cher­wei­se unser Leben posi­tiv ver­än­dern. Tun wir es nicht, wach­sen sie sich unter Umstän­den zu unse­rem Alb­traum aus. Arbei­test du mit dei­nen Träu­men oder hältst du sie für Unsinn? – War­um? Du glaubst doch auch an Bezie­hun­gen, an gas­för­mi­ge Ele­men­te, an Hor­mo­ne … war­um nicht an Träume?

Hat­test du schon ein­mal das Gefühl, dass jemand hin­ter dir steht und dich anstarrt, und es war tat­säch­lich so? Oder hast du ein­mal einen Raum betre­ten und bemerkt, dass „dicke Luft“ herrscht, weil die Anwe­sen­den sich vor­her gestrit­ten haben? Hat­test du schon ein­mal eine Ein­ge­bung, die dich vor etwas gewarnt oder dich dazu gebracht hat, etwas Bestimm­tes zu tun, und es erwies sich als goldrichtig?

War­um glaubst du dann nicht an den Traum? Glaubst du nur an das, was die Wis­sen­schaft bele­gen kann? Sie hinkt in vie­len Berei­chen noch hin­ter­her. Bis die Psy­cho­lo­gie als Wis­sen­schaft aner­kannt wur­de, dau­er­te es Jahr­zehn­te. Oder die Quan­ten­me­cha­nik. Bei der Meta­phy­sik sind die Wis­sen­schaf­ter immer noch bemüht, Bele­ge zu finden. 

Die Traum­welt zu igno­rie­ren oder zu leug­nen wür­de der kind­li­chen Hal­tung ent­spre­chen, die Eltern wären nicht mehr da, wenn sie sich hin­ter der Tür ver­ste­cken oder das Kind sich die Augen zuhält.

Nur, weil wir etwas nicht wahr­neh­men kön­nen, bedeu­tet das nicht, dass es nicht existiert. 

Dann müss­te man auch den kom­plet­ten Cyber­space ver­nei­nen, in dem heu­te ein gro­ßer Teil unse­res sozia­len Lebens statt­fin­det. Ihn kannst du mit Hil­fe der elek­tro­ni­schen Gerä­te erfah­ren – genau­so wie du die Welt mit dei­nem Kör­per und sei­nen bio­elek­tri­schen Signa­len erfährst. Also müs­sen sämt­li­che Rea­li­tä­ten wahr sein – oder kei­ne davon.

Oder glaubst du tat­säch­lich an Träu­me, hast aber kei­nen Schim­mer, was sie dir sagen wol­len? – Die See­le kom­mu­ni­ziert in Bil­dern, die­se müs­sen wir deu­ten und in einen pas­sen­den Kon­text zu unse­rer momen­ta­nen Lebens­si­tua­ti­on set­zen. Jeder von uns hat sei­ne eige­ne Bil­der­spra­che – ich träu­me zum Bei­spiel immer von Babys, die gera­de gebo­ren wur­den, wenn in Kür­ze eine neue Situa­ti­on in mei­nem Leben oder in mei­nem nähe­ren Umfeld ein­tritt. Wenn du dei­ne Träu­me regel­mä­ßig auf­schreibst, wirst du irgend­wann ein Mus­ter dei­ner Spra­che erken­nen und lernst, die Bil­der zu verstehen.

Du glaubst an all das nicht, magst dei­ne Rea­li­tät nicht oder fühlst dich fremdgesteuert? 

Fra­ge dich: 

Hat sich durch das, was du tust oder unter­lässt, dein Leben verändert?

Rea­li­tät ist das, was du dar­aus machst.


von San­dra Bar­bo­sa da Silva

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